Die EU-Kommission hat die neue Vertikal-GVO und die dazugehörigen Leitlinien veröffentlicht; eine erste Bewertung durch unseren Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) liegt vor. Diese enthält einen ersten Überblick über wesentliche Aspekte, die für den Automobilhandel von Bedeutung sind. Eine Pressemitteilung der EU-Kommission kann auf www.kfz-bw.de unter Mitglieder / Unser Service für Mitglieder / Downloads / Monatsdienst heruntergeladen werden.
1. Geltungsdauer Die Verordnung tritt am 1. Juni 2022 in Kraft und gilt bis zum 31. Mai 2034.
2. Übergangszeitraum Für geltende Vereinbarungen, die die Freistellungskriterien der heutigen Vertikal-GVO erfüllen, nicht aber diejenigen der neuen Verordnung, gilt ein Übergangszeitraum bis zum 31. Mai 2023. Diese Regelung dürfte für die geltenden Händlerverträge zutreffen, so dass die neue Vertikal-GVO nebst Leitlinien zusammen mit der neuen (bzw. verlängerten) Kfz-GVO und den dazugehörigen Leitlinien am 1. Juni 2023 ihre Wirkung entfalten wird.
Zweigleisiger Vertrieb
3. Die bisher geltenden Regelungen zum zweigleisigen Vertrieb, bei denen der Hersteller/Importeur auf der Einzelhandelsebene als Wettbewerber zu seinen Vertragshändlern auftritt, sind verschärft worden. Die EU-Kommission hat – glücklicherweise – davon abgesehen, eine neue Marktanteilsschwelle einzuziehen. Sie hat aber in Artikel 2 Absatz 5 der neuen Vertikal-GVO eine zusätzliche Regelung zum Informationsaustausch formuliert. Wie diese zu verstehen ist, wird in Randnummern 96 bis 103 der neuen Leitlinien ausgeführt.
Ohne an dieser Stelle auf Details eingehen zu wollen – eine entsprechende Prüfung wird in jedem Fabrikat vorgenommen werden müssen -, lässt sich feststellen, dass diejenigen Hersteller/Importeure, die auch direkt vertreiben, künftig nicht (mehr) sämtliche Kundeninformationen von ihren Händlern verlangen können. Welche Informationen ausgetauscht werden dürfen und welche nicht, erläutert die EU-Kommission anhand einer nicht abschließenden Liste. Ausgetauscht werden dürfen danach aggregierte Informationen, die der Verbesserung der Produktion oder der Verbesserung der Distribution dienen, nicht aber solche kundenspezifischen Informationen, die dem jeweiligen Hersteller/Importeur als Wettbewerber seiner Händler einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würden. Sofern gegen diese Regelung verstoßen wird, entfällt der Vorteil der Freistellung.
Dieses Thema war ein Schwerpunkt der Lobbyarbeit der Europäischen Handelsallianz AECDR und des ZDK im Frühjahr 2022. Das jetzt vorliegende Ergebnis ist aus unserer Sicht ein Erfolg, wenngleich für die Fabrikatsverbände mit erheblichem Aufwand verbunden, da nunmehr die fabrikatsspezifischen Regelungen gemeinsam mit den jeweiligen Herstellern/Importeuren überprüft werden und eventuell notwendige Anpassungen erfolgen müssen.
4. Handelsvertreterverträge/Agentursysteme Aufgrund der aktuellen Entwicklung, wonach allein in Deutschland mehr als 20 Marken Agentursysteme für den Vertrieb ihrer Neufahrzeuge einführen werden bzw. dies bereits getan haben, sind die Ausführungen der EU-Kommission in den Leitlinien besonders relevant für den Automobilhandel. (Es wäre juristisch korrekt, von Handelsvertreterverträgen zu sprechen, aus Gründen der Vereinfachung wird im Folgenden aber der Begriff Agenturvertrag bzw. Agentursystem verwendet).
Gegenüber den Erläuterungen in den aktuell geltenden Leitlinien sind die Ausführungen in den neuen Leitlinien wesentlich umfangreicher und auch klarer gefasst. Für den Automobilhandel besonders relevant sind die Randnummern 29 bis 45 und 192 der neuen Leitlinien. Insbesondere geht es darum, wann ein echtes Agentursystem vorliegt, das nicht unter den Artikel 101 Abs. 1 des EU-Vertrages (AEUV) fällt. Die EU-Kommission führt dazu aus, dass die Voraussetzungen eng auszulegen sind. Vor diesem Hintergrund wird detailliert erklärt, dass und vor allem welche Risiken der Prinzipal (im Fall des Automobilhandels der Hersteller/Importeur) tragen muss. Bei einem echten Agenturvertrag, der nicht unter die Vertikal-GVO fällt, muss gewährleistet sein, dass der Agent praktisch keine Risiken und daraus resultierende Kosten trägt. Was das konkret bedeutet, ergibt sich aus einer nicht abschließenden Liste in Randnummer 33 der Leitlinien. Genannt werden u.a. Investitionen in bzw. Kosten für die Lagerhaltung, Transport, marktspezifische Ausrüstungen, Räumlichkeiten, Mitarbeiterschulungen bis hin zu Werbung und Verkaufsförderung.
Sofern noch einzelne der genannten Risiken vom Agenten zu tragen sind, ist davon auszugehen, dass kein echtes Agentursystem vorliegt. Das Vertriebssystem fiele damit unter die Vertikal-GVO, was unter anderem zur Folge hätte, dass die einseitige Preisfestsetzung durch den Prinzipal einen Verstoß gegen die Kernbeschränkung des Artikel 4 Buchstabe a der neuen Vertikal-GVO darstellt.
Bei der Beurteilung – so führt es die EU-Kommission in Randnummer 34 aus – ist primär auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten abzustellen, weniger auf die rechtlichen Formulierungen.
Eine weitere Klarstellung hat die EU-Kommission in Randnummer 35 vorgenommen. Danach muss die Übernahme der Risiken und daraus resultierenden Kosten klar unterscheidbar sein von der Vergütung, die der Agent für die Erbringung seiner Leistungen erhält. Dies ist ein Thema, das der ZDK über AECDR noch in den vergangenen Wochen bei der EU-Kommission eingebracht hat. Erfreulicherweise hat die Kommission die diesbezügliche Klarstellung in die neue Randnummer 35 der Leitlinien aufgenommen.
In diesem Zusammenhang sollten auch die Ausführungen der EU-Kommission genannt werden, wonach die Übernahme der Risiken und der daraus resultierenden Kosten durch den Prinzipal selbst dann erfolgen muss, wenn der Agent in einem bestimmten Zeitraum keine Verkäufe erzielt.
Klarstellungen mit besonderer Relevanz für den Automobilhandel gibt es auch zu Mischsystemen, in denen Unternehmen einige Produkte als unabhängige Händler, andere Produkte dagegen als Agenten vertreiben (Randnummern 36 bis 40 der Leitlinien). Hier geht es – bei der Kombination aus echtem Agentursystem und Vertragshändlersystem – erneut um die Übernahme von Risiken von daraus resultierenden Kosten durch den Prinzipal. Zudem kommt es darauf an, ob die Produkte demselben Produktmarkt zuzurechnen sind oder nicht.
Nicht detailliert erläutert ist ein Mischsystem, in dem ein unechtes Agentursystem mit einem Vertragshändlersystem kombiniert wird. Bezogen auf die bereits bekannten Beispiele aus der automobilen Praxis dürfte die rechtssichere Umsetzung derartiger Systeme durch die Vertikal-GVO nebst den neuen Leitlinien zumindest schwieriger werden. Denn einerseits sind die Ausführungen der EU-Kommission zum zweigleisigen Vertrieb zu berücksichtigen, andererseits aber auch die Ausführungen in Randnummer 192 der Leitlinien zur (eingeschränkten) Preisbestimmung durch den Prinzipal bei einem unechten Agentursystem. Hierzu werden Diskussionen zwischen Fabrikatsverbänden und den jeweiligen Herstellern/Importeuren geführt werden müssen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die EU-Kommission hilfreiche – und aus unserer Sicht notwendige – Klarstellungen zu Agentursystemen vorgenommen hat. Es gibt jedoch eine Reihe automobilspezifischer Aspekte, die einer weiteren Erläuterung bedürfen. Hier muss die für Ende Juni 2022 von der EU-Kommission angekündigte Konsultation zur Kfz-GVO nebst Leitlinien genutzt werden, um eventuell eine Aufnahme weiterer Ausführungen zu Agentursystemen in die neuen Leitlinien zu erreichen. Unter anderem wird sich die Fachgruppe Fabrikatsvereinigungen in ihrer Sitzung am 29. Juni 2022 hiermit beschäftigen.
Nachdem die Vertikal-GVO nun steht und in den Fabrikaten nach einer gründlichen Analyse umgesetzt werden muss, gehen die Arbeiten in Richtung der sektorspezifischen Kfz-GVO weiter. Diese ist vor allem für den Werkstatt- und Teilebereich wichtig; die Bundesfachgruppe Freie Werkstätten im ZDK hatte dazu Anfang Mai einen Forderungskatalog vorgelegt.