Der Europäische Gerichtshof (EuGH, Az.: C-97/22) hat sich mit der Frage befasst, ob ein Verbraucher auch dann Wertersatz für vom Unternehmer erbrachte Dienstleistungen zu zahlen hat, wenn der Unternehmer ihn nicht (ordnungsgemäß) über sein Widerrufsrecht informiert und der Verbraucher den außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag erst nach vollständiger Vertragserfüllung widerrufen hat. Auch wenn dem Urteil ein Sachverhalt aus dem Baurecht zugrunde lag, ist die EuGH-Entscheidung gleichermaßen für das Kfz-Gewerbe von Bedeutung.
Sachverhalt
Im Oktober 2020 schloss ein Verbraucher mit einem Unternehmen einen Vertrag über die Erneuerung der Elektroinstallation seines Hauses. Obwohl dieser Vertrag außerhalb der Geschäftsräume des Unternehmens abgeschlossen wurde, informierte der Unternehmer den Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht. Nach Abschluss der Arbeiten erhielt der Verbraucher im Dezember 2020 die Rechnung, die er jedoch nicht beglich. Nachdem das Unternehmen seine Ansprüche aus dem Vertrag an einen Dritten (vermutlich ein Inkassounternehmen) abgetreten hatte, erklärte der Verbraucher im März 2021 den Widerruf des Vertrages.
In dem auf Vergütung der erbrachten Dienstleistung gerichteten Verfahren stellte das LG Essen zunächst fest, dass der Verbraucher nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die der Umsetzung europäischen Rechts dienen, weder die vereinbarte Vergütung noch Wertersatz schulde. Hat ein Verbraucher vor Ablauf der Widerrufsfrist einen außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrag widerrufen, muss er die vom Unternehmer erbrachten Dienstleistungen nicht bezahlen, wenn dieser den Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht unterrichten hat. Das Gericht warf in diesem Zusammenhang allerdings die Frage auf, ob der vollständige Ausschluss des Wertersatzanspruchs möglicherweise eine „unverhältnismäßige Sanktion“ für die Verletzung der Informationspflicht seitens des Unternehmers darstellt, wenn der Verbraucher sein Widerrufsrecht erst nach vollständiger Vertragserfüllung ausgeübt hat.
Aus diesem Grunde hat das LG Essen das Verfahren vorläufig ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung die Frage vorgelegt, ob der durch den vollständigen Ausschluss des Wertersatzanspruchs des Unternehmers erlangte Vermögenszuwachs des Verbrauchers nicht dem vom EuGH anerkannten Verbot der ungerechtfertigten Bereicherung zuwiderläuft.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied, dass dem Unternehmer aufgrund des vom Verbraucher erklärten fristgemäßen Widerrufs des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrages kein Anspruch auf Wertersatz für die vollständig erbrachte Dienstleistung zusteht.Aus den Entscheidungsgründen lässt sich folgendes ableiten:
• Ein außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag ist ein Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher, der bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Unternehmers und des Verbrauchers an einem Ort geschlossen wird, der nicht zu den Geschäftsräumen des Unternehmers gehört. Hierzu zählen z.B. auch Reparaturaufträge, die eine Kfz-Werkstatt im Rahmen einer Pannenhilfe mit einem Verbraucher „auf der Straße“ abschließt.
• Widerruft der Verbraucher einen solchen Vertrag, schuldet er dem Unternehmer Wertersatz für die bis zum Widerruf erbrachten Dienstleistungen nur, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Der Verbraucher muss vom Unternehmer ausdrücklich verlangt haben, dass mit der Dienstleistung vor Ablauf der Widerrufsfrist begonnen werden soll.
2. Dieses Verlangen muss der Verbraucher dem Unternehmer bei einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag auf einem dauerhaften Datenträger übermittelt haben. Hierzu genügt es, wenn der Verbraucher sein Verlangen auf dem Reparaturauftrag bestätigt.
3. Der Unternehmer muss den Verbraucher ordnungsgemäß über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung seines Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular informiert haben.
4. Der Unternehmer muss den Verbraucher darüber informieren, dass der Verbraucher dem Unternehmer einen angemessenen Betrag (= Wertersatz) für die vom Unternehmer erbrachte Leistung schuldet, wenn der Verbraucher das Widerrufsrecht ausübt, nachdem er auf Aufforderung des Unternehmers von diesem ausdrücklich den Beginn der Leistung vor Ablauf der Widerrufsfrist verlangt hat.
• Liegt eine dieser Voraussetzungen nicht vor, steht dem Unternehmer kein Anspruch auf Wertersatz für die von ihm während des Laufs der Widerrufsfrist erbrachten Leistungen zu. In diesem Falle trägt der Unternehmer die Kosten, die ihm für die Erfüllung des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Dienstleistungsvertrags während der laufenden Widerrufsfrist entstanden sind. Um der grundlegenden Bedeutung, die der vorvertraglichen Information über das Widerrufsrecht für den Verbraucherschutz beigemessen wird, Rechnung zu tragen, lässt der EuGH von diesem Grundsatz keine Ausnahmen zu.
• Hat der Unternehmer es versäumt, den Verbraucher über die Bedingungen, Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts sowie über das Muster-Widerrufsformular zu informieren, verlängert sich die Widerrufsfrist auf zwölf Monate und 14 Tage.
• Die vorstehenden Ausführungen (ausgenommen Ziffer 2.) gelten auch für den Fall, dass ein Unternehmer einen Dienstleistungsvertrag mit einem Verbraucher im Wege des Fernabsatzes abgeschlossen hat.
(925-00/Julia Cabanis)