Wird eine Willenserklärung in Abwesenheit des Erklärungsempfängers abgegeben, wird sie in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie dem Empfänger zugeht (§ 130 Abs. 1 BGB). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) ist das dann der Fall, wenn die Willenserklärung so in den Bereich des Erklärungsempfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. In seinem (branchenfremden) Urteil hat der BGH (Az.: VII ZR 895/21) nun erstmals die umstrittene Rechtsfrage entschieden, wann dem Erklärungsempfänger eine Willenserklärung zugeht, die der Absender per E-Mail versandt hat. Allerdings bezieht sich die Entscheidung ausdrücklich nur auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr. Der Zeitpunkt des Zugangs einer Willenserklärung kann im Einzelfall aus vielerlei Gründen bedeutsam sein, z.B. wenn es um die Einhaltung von Fristen geht oder – wie im vorliegenden Fall – weil Willenserklärungen nicht wirksam werden, wenn dem Erklärungsempfänger vorher oder zeitgleich ein Widerruf des Absenders zugeht.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat für den unternehmerischen Geschäftsverkehr entschieden: Wird dem Erklärungsempfänger eine E-Mail innerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dessen Mailserver abrufbereit zur Verfügung gestellt, ist sie dem Empfänger grundsätzlich in diesem Zeitpunkt zugegangen. Für den Zugang der E-Mail ist es nicht erforderlich, dass der Empfänger die E-Mail tatsächlich abgerufen und zur Kenntnis genommen hat.
Fazit:
1. Für im unternehmerischen Geschäftsverkehr versandte E-Mails gilt: Geht bei einem Unternehmer innerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dessen Mailserver eine abrufbereite E-Mail von einem anderen Unternehmer ein, ist sie ihm in diesem Zeitpunkt zugegangen. Handelt es sich bei der per E-Mail versandten Willenserklärung um ein Angebot auf Abschluss eines Vertrages, kann der Absender sie wirksam erst dann widerrufen, wenn der Empfänger das Angebot entweder nicht innerhalb der vom Absender gesetzten Annahmefrist oder innerhalb des Zeitraums angenommen hat, in dem der Absender den Eingang einer Antwort regelmäßig erwarten darf. Das gilt auch dann, wenn der Absender das dem Empfänger zugegangene Angebot widerrufen hat, bevor der Empfänger von dem Angebot tatsächlich Kenntnis erlangt hat.
2. Nicht entschieden hat der BGH die Frage, in welchem Zeitpunkt eine per E-Mail versandte Willenserklärung zugeht, wenn es sich bei dem Absender oder Empfänger um einen Verbraucher handelt.
(921-00/Julia Cabanis)